Tolstois Alterswerk "Die Kreutzersonate" ist ein merkwürdiger Zwitter. Da ist einerseits das packende Drama einer vergifteten Ehe, die meisterhafte, psychologisch subtile Schilderung einer fatalen Zweisamkeit:
Der Zugpassagier Posdnyschew erzählt einem Mitreisenden von seinem lockeren vorehelichen Geschlechtsleben, von der flüchtigen Verliebtheit, die ihn in die Heirat trieb, und von der Hölle, zu der ihm diese Ehe wurde. Aus Egoismus wurde Rechthaberei, aus Überdruss Hass, aus Eitelkeit rasende Eifersucht. Andererseits flicht Tolstoi einen moralischen Traktat ein, der es mit jeder Sittenpredigt von der Kanzel aufnehmen kann. Posdnyschew stellt das Ehe- und Geschlechtsleben seiner Zeit mit tabubrecherischer Deutlichkeit an den Pranger ¿ und zieht die bizarre Schlussfolgerung, dass die Sexualität, auch in der Ehe, ein Übel sei, das man nur durch umfassende Enthaltsamkeit kurieren könne. Diese fundamentalistische Abhandlung mag für Tolstoi der Kern des Werks gewesen sein ¿ für den heutigen Leser ist die irritierende Geschichte eines innerlich zerrissenen Menschen, den die Eifersucht zu einer unfassbaren Tat treibt und der seine Ehefrau für sein Verderben verantwortlich macht, vor allem ein Höhepunkt realistischer Erzählkunst.
Das Buch war ein Skandal: Lew Tolstoi (1818-1910) offenbarte damit eine erschütternde Einstellung der Ehe und den Frauen gegenüber, die Welt sah sich als Zeuge einer persönlichen Abrechnung des Autors mit seiner Ehefrau.
Nachdruck einer Originalausgabe o. J.